In seinem jüngsten Film begeistert der Grieche Giorgos Lanthimos wieder mit einer gesellschaftlich provokativ-satirischen Meisterleistung. Emma Stone brilliert als frankenstein’sche Frau, die die Welt für sich entdeckt.
von Susanne Gottlieb
18. Jänner 2024: In Hollywood arbeiten derzeit wohl wenige Regisseure, die die Kunst der Satire so sehr beherrschen, und die sich im Laufe ihrer Kommerzialisierung so wenig verraten haben wie der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos. Einst erregte er 2009 Aufsehen mit seinem angriffslustigen, unorthodoxen Dogtooth, in den letzten Jahren hat der Vertreter der Greek Weird Wave vor allem mit den großen Namen jenseits des Teiches gedreht. Kritische Erfolge wie The Killing of A Sacred Deer, The Lobster oder The Favourite (hier unsere Review) haben dabei aber nichts von ihrer visuellen Brillanz, ihrer Spitzfindigkeit in den Dialogen und der Radikalität ihrer Botschaft verloren.
Poor Things ist nach The Favourite nun seine zweite Zusammenarbeit mit Emma Stone. Warum ihr dieses dynamische Duo auf keinem Fall im Kino verpassen solltet, erfahrt ihr hier. Und hier gibts bereits eine Kritik zum großartigen All of us Strangers.
Im London des 19. Jahrhunderts lebt der Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) mit seinem Mündel Bella Baxter (Emma Stone) in seinem Anwesen, wo er die junge Frau genau unter Beobachtung hat. Denn Bella ist nicht irgendwer. Sie ist das frankenstein’sche Ergebnis eines Experiments von Baxter. Der Körper einer Frau, die sich die London Tower Bridge heruntergestürzt hatte und das Gehirn ihres noch lebenden, ungeborenen Kindes, das Baxter ihr eingepflanzt hat. Um ihre Entwicklung besser zu verstehen, holt Baxter sich den Studenten Max McCandles (Ramy Youssef) ins Haus. Gemeinsam protokollieren sie den Fortschritt von einfachen, babyartigen Lauten und Spielen zu ersten sexuellen Neigungen.
Doch je mehr Bella die Welt um sich herum entdeckt, desto kleiner werden die vier Wände, in denen Baxter sie beschützen will. Als sie dem schmierigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) begegnet, sieht sie ihre Chance gekommen. Sie läuft mit ihm (nach dem Segen Baxters) davon und reist mit ihm nach Lissabon, Alexandria und Paris. Doch so wie sich Bellas Wahrnehmung immer weiter entwickelt, so lassen auch ihre kindliche Naivität und ihr Außenseiterstatus in den gesellschaftlichen Konventionen sie den Status Quo hinterfragen. Ob nun ihre angestammte Rolle als Frau, die Ungerechtigkeit der Welt, oder die Doppelmoral einer frigiden Sexualität. Sie beginnt die Erwartungen um sich herum einzureißen. Sich zu emanzipieren in einer Welt, deren Regeln sie nicht spielen will.
Für ihre beeindruckende Leistung als Bella wurde Emma Stone gerade mit dem Golden Globe ausgezeichnet. Zurecht, denn die Rolle ist einer ihrer besten Darbietungen ihrer Karriere. Aber auch sonst ist der Film eine mit über zwei Stunden lange, aber stets visuell und inhaltlich faszinierende Meisterleistung. Noch mehr Exzentkrik als The Favourite schien im ersten Moment gar nicht möglich, aber Giorgos Lanthimos hat sich erneut selbst übertroffen. Seine Welt ist eine steampunk’sche Fantasie, der Elemente des deutschen Expressionismus, von Theaterbühnenbildern, Cut Outs und auch überzeichnete Traumwelten miteinander verbindet. Die Farben sind so bunt wie aggressiv, die Mode überdreht, die Kamerawinkel wieder so eng und fischaugig, wie man das von Lanthimos gewohnt ist.
Trotzdem verkommt die Angelegenheit nie zu einer reinen optischen Show. Im Kern ist es die Geschichte einer Frau, die sich den Regeln der Gesellschaft widersetzt, ihr eigenes Ich entdeckt und das Recht, dieses auszuleben, rigoros verteidigt. Dafoe begeistert wie immer in einer Nebenrolle als Ziehvater und hat sich wohl erneut in den Stamm- Schauspielerkreis eines weiteren Regisseurs eingearbeitet. Youssef gelingt es, seinen zartbesaiteten Max den nötigen Respekt zu verleihen, Ruffalo hingegen geht genüsslich in seiner Rolle als Ungustl auf. Der sonst stets als Good Guy besetzte Schauspieler ist neben Stone die unterhaltsamste Darbietung in diesem Streifen.
Ebenfalls wieder mit dabei ist Drehbuchautor Tony McNamara, dessen scharfe Dialoge und absurder Sinn für Humor schon The Favourite (sowie seine eigene Serie, das kürzlich abgesetzte The Great) zu einem provokanten Vergnügen gemacht hatten. Zwar basiert die Geschichte auf dem bereits bitterbösen, humorvollen Roman von Alasdair Gray, aber in typischer Lanthimos Manier treffen hier steife, reduzierte Darbietungen auf die spritzigen Dialoge McNamaras. Das zündet erneut ein Feuerwerk, schafft ein asymmetrisches, anachronistisches Universum, das zeitlos und relevant wirkt.
Poor Things begeistert mit einem exzentrischen Auftreten, fingierten Dialogen und großartigen Darbietungen. Ein frankenstein’sches Märchen, wo sich die Kreatur über die Konventionen erhebt, die sie erdrücken wollen und das für gute Unterhaltung sorgt.
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Alle Fotos: (c) Walt Disney
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr, arbeitet im Filmarchiv Austria und berichtet von diversen Filmfestivals.