In ihrem ersten Roman spiegelt Dominika Meindl mehr als nur das von Touristen überlaufene Hallstatt. Die Verknüpfung zweier Enden der Welt in moderner Profitlust und nebenher das Leben, das trotz aller Planung und Mühe niemanden unversehrt davonkommen lässt.
von Peter Huemer
Johanna kehrt nach langen Jahren in Wien nach Hallstatt zurück, um die Ordination des verstorbenen Hausarztes zu übernehmen und zieht in das verlassene Haus ihrer ebenfalls verstorbenen Eltern. Ihre Zwillingsschwester Doris hat ihr gesamtes Leben in der Gegend verbracht und ist die örtliche Tischlerin. Der jung verwitwerte Andrej sucht nach einer Zukunft unter Menschen, für die er lange ein Zugereister sein wird. Gleichzeitig betätigt sich ein in Österreich aufgewachsener chinesischer Tourismusbeamter in “kultureller” Spionage, während an einem See in China eine Kopie von Hallstatt errichtet wird.
Selbe Stadt, anderer Planet ist ein Buch der falschen Spiegelbilder oder Zerrspiegelbilder. Beim Lesen geht es einem anfangs wie den Charakteren bei der Nachricht um den Nachbau ihres Weltkulturerbes. Man meint Doppelungen zu sehen, Verbindungen und glaubt alles in allem wiederzuerkennen. Nach einer Weile jedoch zerfasern die Ähnlichkeiten und es zeigt sich, dass einen die eigenen Augen in die Irre geführt haben. Die Dinge sind nicht nur spiegelverkehrt, sondern auch an Schlüsselstellen grundverschieden, ja gegensätzlich, sodass man beim Versuch, sich neu zu orientieren, strauchelt. Es gibt keine schlechten Kopien, sondern nur Dinge und Menschen und Orte, die immer schon anders waren, die kaum je wirklich versucht haben, Kopien des anderen zu sein.
So führt sich die Diskussion um Originalität schnell ad absurdum und dahinter offenbart sich etwas gänzlich Anderes. Wäre es nicht schön, eine kuriose und bedeutungsvolle Doppelungsmetapher bestimme das Leben? Ein philosophisches Rätsel, an dessen Ende eine Auflösung und Befriedigung stünde – ein geschlossener narrativer Bogen des Lebens? Aber so funktioniert das Leben nicht, auch nicht für die Zwillinge von Hallstatt, den Witwer oder den chinesischen Staatsbeamten.
Die scheinbaren Spiegelungen in der Erzählung sind auch die Basis für unterschiedliche Blicke auf die Zukunft. Was bedeutet der Lauf der Zeit und sollte man sich gegen ihn stemmen oder seine Effekte beschleunigen? Ist Stillstand erstrebenswert? In Hallstatt, dem Kulturerbe, wird performativer Stillstand zelebriert. Das Bild, die Kulisse, muss immer gleich bleiben, während der Rahm vergoldet wird. An den Rändern des Stillstands baut man Toilettenanlagen und wechselt das Angebot in den Schaufenstern und die Menschen sterben weg.
In der Stadt lebt kaum noch jemand, dafür werden die Häuser rundum unleistbar. Damit ist die chinesische Kopie so etwas wie eine Essenz des Ganzen, das die Probleme und widersprüchliche Wünsche der Stadt zur vermeintlichen Tugend macht. Niemand soll in der Schaustadt, der Attraktion selbst, leben. Dafür baut man riesige Immobilienprojekte drum herum. Anstatt die Ursprünglichkeit, die Stadt als Stadt zu kopieren, scheint man in China die aktuelle vorgeblich zu bekämpfende Realität einer Stadt als Standbild verstanden zu haben.
Johanna träumt davon zu sterben. Andauernd träumt sie von schlimmen Verletzungen und betreut im Wachen die Alten und Kranken der Gegend auf ihren letzten Wegen. Der Lauf der Zeit und die Fragilität des Lebens dringen in ihre Träume ein und bauen in ihr eine etwas fatalistische Weltsicht, die sie an vielem zweifeln lässt. Das Entrümpeln des Elternhauses spricht gegen das Anschaffen neuer Dinge. Die Endlichkeit scheint dem Kreativen seinen Sinn zu nehmen.
Auch Doris zögert ihr Leben vorwärts zu treiben. Sie denkt darüber nach, ob sie wirklich die jeweils nächsten Schritte wagen soll oder ob sie doch besser noch einmal abbiegen sollte. Für Andrej ist mit dem Krebstod seiner Frau alles stehen geblieben – zumindest für ihn selbst. Aber der Garten wuchert und die Kinder wachsen. Er ist die Zwischenfigur, das Bindesglied zwischen den Zwillingen, Hallstatt, dem unsicheren Zögern und Patrik (so sein österreichsicher Name), dem chinesischen Tourismusmenschen, der von Idee zu Idee und von Projekt zu Projekt springt – immer neu, immer weiter. Es kommt zu einer Verschränkung. Alle zieht es innerlich weg vom eigenen und in die vermeintliche Umkehr und dann doch wieder nicht.
Die Touristen oder besser der Tourismus ist eine Naturgewalt, mit der sich Hallstatt abgefunden hat und ihn zur eigenen Existenzgrundlage gemacht hat. Dass die Straßen und der Platz ständig wimmelt, ist störend, aber dennoch bei einer alternden Bevölkerung eine Notwendigkeit. Man stört sich an den Chinesen und Arabern und Russen, aber gleichzeitig verlässt man sich auf sie. Wie ein Sturm, der die Turbinen eines Windrades antreibt, aber den Garten ruiniert. Niemand hinterfragt einen Sturm. Patrik weiß es besser. Er sieht die Touristen und denkt darüber nach sie zu lenken. Er bringt aus chinesischer Sicht die Selbstverständlichkeit mit, dass man Herr über die Erde sei. Wenn ein Fluss stört, wird er umgeleitet. Wenn ein Mensch stört, wird er umgeleitet. Wenn eine Stadt gefällt, wird sie nachgebaut. Alles hängt vom Marketing ab. Alles will verwendet und ausgeschlachtet werden. Potential ist das Stichwort.
Authentizität ist ein Werkzeug und kann produziert werden. Aber in einer solchen Welt der Lenkbarkeit ist nichts sicher, nichts gegeben. Denn es gibt immer noch eine übergeordnete Macht, die einen, ebenso wie man selbst andere, lenken kann. Der Fatalismus der Hallstätter und ihre monolithische und statische Existenz wird am Ende der Veränderungswalze plötzlich attraktiv. Nur ist auch das eine Illusion. Die Langsamkeit verdeckt die Unausweichlichkeit des menschlich beschleunigten Hochglanzverfalls. Aber damit zu leben, das zu akzeptieren und dennoch Glück zu finden ist notwendig. Und dann hört die Geschichte auf – in der Mitte, wo sie auch begonnen hat.
Selbe Stadt, anderer Planet ist ein humorvoller und gehaltvoller Roman, dessen unaufgeregter Plot wichtige Fragen transportiert, ohne unendlich herum zu philosophieren. Selten kommt es vor, dass ein Roman seine eigene Konstruiertheit schrittweise auseinandernimmt und am Ende organischer gewachsen erscheint als am Anfang. Das Gerüst fällt von der Baustelle ab und offenbart etwas immer schon Dagewesenes. Lesenswert!
Selbe Stadt, anderer Planet ist Februar 2024 im Picus Verlag erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.