Nach seinem 2020 für den Deutschen Buchpreis nominierten Debüt Triceratops ist Stephan Roiss mit Lauter zurück, einem dichten Roman, der mit fortlaufender Länge immer mehr Fahrt aufnimmt. Es wird lauter.
von Peter Huemer, 14. 7. 2024
Ein grenzenloses, schnelles Leben transportiert ein Gefühl der Unendlichkeit. Leider bricht die unausweichlichste aller Realitäten, der Tod, irgendwann in jedes Leben und würfelt Prioritäten durcheinander. So ergeht es Leon, der trotz einer hastigen Heimkehr aus Kuba die letzten Stunden seiner Mutter verpasst und plötzlich vor einer unvorstellbaren Leere steht. Wie bei einem Autounfall ist es nicht die Geschwindigkeit, die einen umbringt, sondern das abrupte Anhalten. Das Schicksal ist eine unsichtbare Wand auf der Autobahn.
Lauter ist ein Roman, der sich zu Beginn kunstvoll ausbremst und in einen Stillstand manövriert. Ein Schicksalsschlag, der, obwohl nicht zu verhindern, alles durcheinanderwirft, Schuldgefühle und Zweifel manifestiert und Leon zur Neuordnung nicht nur seines Lebens, sondern auch seiner Vorstellungen vom Leben zwingt. Stillzuhalten widerstrebt Leons Instinkten. Die Reise, die Flucht, das ziellose Vorwärts ist seine Komfortzone. Aber nach einem weiteren Schlag braucht es einen externen Impuls, um Leon in Bewegung zu setzten.
Die Antwort liegt in der Ferne und den weit verstreuten Einsichten alter Freunde. Anders kann sich Leon die Welt kaum vorstellen. Der Vater, die Familie – alles Rückwärtsgewandte und auch alle darin angedeutete Möglichkeit niemals realisierter Geborgenheit – muss hinter sich gelassen werden, ausgeblendet. Die Flucht nach vorne ist ein Stolpern, ein Fuß fassen und immer wieder emotional Straucheln. Aber die Flucht, die Rastlosigkeit ist, was Leons gewohnt ist und somit kann er nun beginnen, all das in neuem Licht zu erkunden – im Licht der Endlichkeit.
Das Erzähltempo und die Dynamik des Stils befinden sich nach der anfänglichen Entschleunigung im ständigen Vorwärtsgang. Gewissermaßen vergeht die Zeit immer schneller, je mehr Zeit bereits vergangen ist. Obwohl die Todesangst einen dazu verführt, am Augenblick festzuhalten, ist das Loslassen und in Bewegung Kommen einem verwahrlosenden Stagnieren vorzuziehen. Vorwärts bedeutet aber nicht, dass eine Rückkehr unmöglich ist. So führt der Roman aus seiner Fluchtbewegung zu einer Rückkehrbewegung zu bekannten Menschen und Gefühlen, die nun im Licht der bewältigten Reise keinen Rückschritt darstellen, sondern eine Weiterentwicklung.
All das benötigt eine emotionale und intellektuelle Konfrontation nach der anderen, die sich als poetisches Herausschälen und gegen den Strom anschwimmen darstellt. Um die Komplexität des Schmerzes und der Sorgen zu konfrontieren, sucht und findet Roiss elegante Sprache, eine musikalische Dynamik. Schon zu Beginn, als Trauma, Zweifel und Schuldgefühle Leon lähmen, fühlt man sich an ein langsames Aufschwellen, ein Tool-Songintro, errinnert, das sich vorsichtig vorantastet bis es im hinteren Teil des Buches eine literarische Wucht entfesselt, die ohne den am Anfang gelegten Grundstein und den erarbeiteten Kontrast nicht möglich gewesen wäre.
Lauter von Stephan Roiss ist ein Roman, der auf seinen 240 Seiten aus einem eher langsamen Start heraus eine unheimliche Dichte und emotionale Wahrhaftigkeit entwickelt. Ein Buch, das es auf jeden Fall wert ist, bis zu Ende gelesen zu werden, und das möglichst in ein bis zwei Sitzungen. Die kraftvoll und bedacht eingesetzte Sprache ist Alleinstellungsmerkmal. Vor allem aber sind die Dynamik von Tempo und Struktur, der Wandel zwischen intellektueller Verhandlung und emotionalem Erleben, was Lauter ausmacht.
“Lauter” von Stephan Roiss ist im März 2024 bei Jung und Jung erschienen.
Alle Buchtipps von Peter auf einen Blick
DIE GNADE DER GÖTTER von James S. A. Corey
Eternal Partner – Rezension: Utopie mit Witz
George Lucas: Der lange Weg zu Star Wars
Die 12 besten Wiener Buchläden
Unsere 14 liebsten LGBTQIA+ Bücher
Alle Fotos (c) jungundjung, Zoe Goldstein, heldenderfreizeit
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.