Manchmal kommt einem ein Buch unter, das zwar beim Lesen keinen Spaß macht, bei dem man aber dennoch mit jeder Seite mehr und mehr versteht, dass das, was man da gerade liest, unheimlich wichtig und bedeutungsvoll ist. So verhält es sich mit Die letzten Tage von Martin Prinz. Passend dazu, dass sich 2025 das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal jährt, erinnert uns dieses Buch an die tiefsten Abgründe. Unser Buchtipp des Monats.
von Peter Huemer, 15. 5. 2025
Das Kriegsende ist bereits in naher Zukunft abzusehen. Die Rote Armee ist dabei, Wien zu umzingeln und dringt immer weiter ins Landesinnere ein. Von Fanatismus, Verblendung und Ressentiments getrieben, stellen SS, Wehrmachts und Parteifunktionäre in den Ortschaften des Höllentals ein Standgericht auf die Beine, um noch schnell alle unliebsamen Personen zum Tode zu verurteilen. Eine Geschichte der Enthemmung nimmt ihren blutigen Lauf.
Wie erzählt man vom Schlimmsten, zu dem Menschen fähig sind? Diese Frage beantwortet Martin Prinz bereits auf den ersten Seiten. Vorweg stellt er ein Zitat von Ilse Aichinger: “Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit.” Und diese Herangehensweise ist Programm – vor allem, weil Prinz die Geschichte entlang der Gerichtsakten erzählt. Denn den Verbrechern dieser Tage wurde (anders als so vielen anderen) im Nachkriegsösterreich der Prozess gemacht.
Im juristischen Konjunktiv, aus der Distanz, schildern Täter, Mitläufer und Zeugen, die Gräueltaten. Die Distanz und sprachliche Neutralität ist es, die einen nach wenigen Seiten zermürbt. Hier wird man nicht manipuliert, nicht mit großem Gestus auf das Böse gestoßen, sondern gnadenlos dem Übel gegenübergestellt. Das Geschehen steht für sich selbst. Es braucht keine Metaphern, um zu verstehen, was man da gerade liest.
Umso härter treffen einen die Passagen, in denen scheinbar den Opfern (mit du angesprochen) ihr eigenes Schicksal berichtet wird. In Gegenüberstellung mit den fast schon absurd anmutetenden Diskussionen darüber, ob die Einrichtung eines Standgerichts nach damaligem Recht korrekt von statten gegangen sei, ob ein Richter und ein echter Jurist als Ankläger von nöten gewesen wären, fahren einem die persönlichen Schicksale tief in die Knochen. Die Frage, unter welchen Umständen es akzeptabel ist, jemand Wehrlosen für nichtige Vergehen zum Tode zu verurteilen, schwebt aus verfahrenstechnischen Gründen zu Beginn der Täterbefragungen über allem.
Nachdem die Täter selbst die Todestrafe erwartet, scheint es eine Selbstrechtfertigung des Gerichts im Rechtsstaat zu sein, die die Frage nach Schuld und Unschuld von den Menschen fort in den juristischen Dschungel verpflanzt. Durftest du jemanden töten? War es gerechtfertigt? Eine grausame Frage. Obwohl der Roman sich eng an den Gerichtsakten orientiert, gelingt es, die juristische Kälte zu übersetzten, begreiflich zu machen, dass hier willkürlich Leben vernichtet wurde. Und dass es so leicht fiel, weil dem bereits Jahre der Gnadenlosigkeit und Entmenschlichung vorangegangen waren. Ein letzten großes Morden noch, bevor es zu spät ist.
Neben dem Schicksal der Opfer findet sich in den Standgerichten, ihren vorder- und hintergründigen Begründungen, eine beinahe allgemeingültig erscheinende Erzählung vom Ende von Schreckensherrschaften im Allgemeinen. Wenn sich die Herrschenden die Welt ausschließlich anhand ihrer verkommenen Ideologie zu erklären wissen und die Selbstverständlichkeiten von Sieg und Herrschaft aus den Fugen geraten, dann wird die Gewalt zum Instrument der Selbstversicherung.
Solange man noch Macht über Leben und Tod der eigenen Leute hat, scheint alles unter Kontrolle. Es ist die Illusion von der Souveränität eines Machtappartes, den es eigentlich schon nicht mehr gibt. Gestützt auf eine Scheinbürokratie, die sich bereits um die eigenen Regeln nicht mehr kümmert, und trotzdem darauf besteht, alles festzuhalten, niederzuschreiben und die eigenen Worte mit eigenen Worten zu rechtfertigen.
Die letzten Tage ist ein erschütterndes Buch. Es ist eine Erinnerung, daran, wozu man selbst, die eigenen Nachbarn, die eigene “Zivilisation” fähig ist, hat sie sich erst in eine moralische Sackgasse manövriert. In unserer nicht mehr so friedlichen Zeit ist es notwendig den Blick über die Ränder der eigenen friedlichen Bequemlichkeit hinauszuwagen. Denn das Erinnern ist nicht Selbstzweck, ist nicht Aufforderung zur Reue, sondern Warnung vor der Zerbrechlichkeit einer als selbstverständlich angenommenen Friedens- und Gesellschaftsordnung. Es ist kein weiter Weg von Gedanken über Worte hin zu Taten. Und ist das Rad der Gewalt einmal losgetreten, rollt es ohne Rücksicht.
Die letzten Tage von Martin Prinz ist im Februar 2025 bei Jung und Jung erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.