Bedarf an kritischen Blicken auf die Gesellschaft gibt es zur genug. Noch besser, wenn ein solcher Blick mit etwas Humor serviert wird. Wie bei jeder guten Satire bleibt einem auch bei Tiny House von Mario Wurmitzer das Lachen des öfteren im Halse stecken.
Eine Review von Peter Huemer, 22. 6. 2025
Emil ist Bewohner eines Tiny House. Oder besser: er ist DER Tiny House Bewohner. Angeheuert von der Firma um in einem Musterhaus zu wohnen und dabei 24 Stunden am Tag per Livestream präsentiert zu werden. Trotz aller Öffentlichkeit ist es ein isoliertes Leben, das aber schnell von einer unerklärlichen Serie von Brandstiftungen in der Siedlung unterbrochen wird.
Tiny House wirft die Lesenden in rasantem Tempo in seine Geschichte und ins Absurde, wohin sich andere Satiren erst vortasten müssen. Doch je näher man hinsieht, desto plausibler wird das Ganze. Es gibt schon lange Menschen, die sich den ganzen Tag über filmen lassen. Dass Reality TV seinen nachvollziehbaren Nutzen im Direktmarketing findet, liegt nicht fern. Selbst als Emil sein Tiny House gegen ein Luxusbaumhaus eintauscht wirkt das nicht allzu abwegig.
Was einem aber gleich von Beginn an ein Gefühl zwischen Unbehagen und schmerzhafter Erheiterung bereitet, ist die Art und Weise, mit der unsere Protagonist seiner Lebenssituation begegnet. Es ist sein an Dissoziation grenzender Stoizismus oder seine an Dissoziation grenzende stoische Erzählweise, die mit dem zur Schau gestellten Chaos in Konflikt steht. Dieser Konflikt trägt das Buch, weil er sich durch alle weiteren Stationen zieht.
Das Tiny House selbst gibt die Marschrichtung vor. Ein Objekt, dessen Funktion nur oberflächlich in seinen angepriesenen Eigenschaften liegt. Vielmehr ist es eine Idee, die es zu verkaufen gilt, die von den Marketingleuten mehr gelebt wird als von den Käufern. Und es ist auch die Idee, die verkauft wird, nicht das Haus. Und was, wenn man die Idee vollständig von jeder Substanz löst? Denn dort steckt der Wert – in der Performance, dem Gefühl, dem Einfluss des Dinges auf das Selbst. Folgerichtig geht es weiter in den Finanzsektor, oder besser gesagt, in den Scheinfinanzsektor. Fühlbar an reale Vorbilder angelehnt schließt sich Emil einem Freund an, der mit seiner Entourage die Blender und ihre modernen Finanzscams perfekt verkörpert. Inklusive Regelverachtung, Selbstbetrug und zur Schau gestellter Einfältigkeit.
Es ist eine beneidenswerte Sorglosigkeit allem gegenüber. Es wäre fast bewundernswert, fußte die Sache nicht auf tiefer Menschenverachtung und Selbstsucht. Und wo ist die Satire? Kennen wir nicht genügend reale Vorbilder, die kein bisschen weniger dem Wahnsinn verfallen sind? Genau. Aber wir kennen sie eben nicht wirklich und die absurden Zwischenschritte des Tanzes sind es, die Tiny House präsentiert, die Stimmen der Mitarbeiter und die Worte am Rande, die aus einem Gefühl etwas Greifbares erschaffen. Man könnte lachen, müsste man nicht weinen. Aber weil Emil meist weder weint noch lacht, erlaubt er uns beides zu tun, ohne uns dafür schlecht zu fühlen.
Gelingen kann ein solches Unterfangen nur durch die wohl gewählte emotionale Zurückhaltung. Emil wütet nicht über die Zustände der Welt. Obwohl er in der Lage ist, Gut und Böse zu unterscheiden, eine Meinung hat, bleibt er emotional bei sich selbst. Ungewohnt für einen Protagonisten, aber entlarvend, wenn man das eigene Leben betrachtet. Natürlich bewegt einen das große Ganze, aber schnell denkt man wieder daran, woher man seinen Lebensunterhalt bezieht, was man essen soll, wo schlafen, was anschauen, mit wem reden etc. Es brechen in diesem Roman nicht die großen narrativen Wellen. Stattdessen zeichnet das Buch eine Strömungskarte und damit sind es auch nicht einzelne brilliante Witze, Beobachtungen oder Spitzzüngigkeiten, sondern ein Mosaik aus Kleinigkeiten, die den satirischen Wert von Tiny House ausmachen.
Tiny House von Mario Wurmitzer ist eine großartig gelungene Gesellschaftssatire, die sich so nahe an der Realität bewegt, dass es weh tut. Es reichen kleine, treffend platzierte Überhöhungen und ein ruhig durch die Geschichte führender Protagonist, um einen in den Bann der aufklaffenden Abgründe zu ziehen. Volle Empfehlung!
Tiny House von Mario Wurmitzer ist im März 2025 beim Aufbau Verlag erschienen.
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Alle Fotos (c) Aufbau Verlag, Flora Hübl, heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.