Ein Buch schreiben und es womöglich erst Jahre später endlich gedruckt in Händen zu halten, ist einer der schönsten, aber flüchtigsten Momente im Schriftsteller:innen-Leben. Man hat das Innerste in die Welt entlassen und hofft auf eine Antwort, ein Echo, das Gefühl, gehört zu werden.
Peter Marius Huemer ist freier Schriftsteller. Gerade ist sein drittes Buch Die Bibliothekarin erschienen. Den Helden der Freizeit gibt er tiefe Einblicke, welche Freuden und Leiden mit dem Buch schreiben verbunden sind.
19. April 2023: In Zeiten größtmöglicher medialer Sättigung konzentriert sich das Echo auf wenige Stellen und verhallt beinahe überall sonst. Man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht. Da freue ich mich besonders über die Gelegenheit, da ich gerade meinen dritten Roman – Die Bibliothekarin – veröffentlicht habe, das Echo an dieser Stelle einen Moment lang selbst produzieren zu dürfen. Ein Buch schreiben – was für eine spannende Reise ist damit verbunden?
Ich möchte euch mitnehmen: vom Prozess der Ideenfindung, wie sich ein Leben nur unter Büchern für meine Hauptfigur anfühlt und wie auf der anderen Seite die Suche nach einem Echo und einer Leser:innenschaft für jeden Autor essentiell ist.
Die Idee entstand aus der Verzweiflung angesichts eines Einkaufs in der Buchhandlung. Sechs Bücher kaufte ich, allesamt hochinteressant, aber keines unter 400 Seiten – unmöglich, sie alle zu lesen, nicht in meinem Lesetempo. Und dann der Blick ins Bücherregal und auf den Stapel neben dem Bett: keine Chance. Aus dieser Frustration entstand ein Bild, ein Szenario, ein Leben mit nichts als Büchern und Zeit. Eine Person an einem Tisch und der Wunsch, den Rest der Welt teilhaben zu lassen. Von diesem Auslöser ist im Roman bloß das Gerippe geblieben, doch es überfluteten mich schnell so viele Themenbereiche, Probleme, Konzepte etc., die sich daran aufhängen ließen. Und wegen der gegenwärtigen Umstände entstand um die Knochen (beinahe) notwendigerweise eine Dystopie.
Dann vergehen zwei Jahre, bis man das Buch endlich fertig in Händen hält. Obwohl mit dem Verlag (in meinem Falle: der wunderbare Septime Verlag) bereits lange vorher die Veröffentlichung abgesprochen wurde, zieht sich das Warten auf den vereinbarten Termin jedes Mal unendlich lange hin. Diese weite Trennung zwischen Schreiben und Veröffentlichen fühlt sich in digitalen Zeiten manchmal schmerzhaft träge an. Dann muss es auf einmal ganz schnell gehen. Das Lektorat steht an und hunderte Tippfehler, Formatierungsprobleme und Interpunktionsschlampereien müssen korrigiert und eingepflegt werden. Einmal noch werden viele Formulierungen und Satzgebilde abgewogen und zugeschliffen. Der Drucktermin dräut und drängt, aber durch die beeindruckenden Bemühungen des Verlegers, der Lektorin und von mir selbst wird alles rechtzeitig fertig. Die Welt der Bibliothekarin ist bereit, die Öffentlichkeit zu empfangen.
Die Bibliothekarin lebt seit 20 Jahren allein in Abteilung F-23, der Bibliothek, und katalogisiert die Werke einer vergangenen, undenkbar fernen Welt. Geboren in Abteilung G-12, wurde sie mit 15 zur Bibliothekarin auserwählt und ist seither allein. Kein Kontakt zu anderen Abteilungen, keine Menschenseele und ein Verbot, die Bücher in ihrer Bibliothek zu lesen. Und sie hält sich an dieses Verbot, weil die Pflicht es gebietet. Es steht keine explizite Strafe auf Pflichtverletzung, aber sie ist sich sicher, bestraft zu werden, sollte sie ihre Pflicht vernachlässigen. Bis es ihr einmal unabsichtlich passiert. Die Schleusentore sind geöffnet und sie macht sich daran, die Bücher, deren Sprache sie erst zu verstehen lernen muss, zu entschlüsseln, zu genießen und zu teilen, sie tatsächlich zu lesen.
Doch trotz aller neuen Erkenntnisse und Genüsse bleiben doch stets die Einsamkeit, die Berührungslosigkeit stimmlicher Kommunikation und die Sehnsucht, die ein Blick in eine bessere, aufregendere Zeit auslöst. Ein weiter innerer Horizont sucht nach einem echten, einem weltlichen Horizont, in dem er Erfüllung finden kann. Deshalb ist die Kunst ohne das Leben nicht genug und dennoch reicht ein Fenster aus Fantasie und Kreativität, der Bibliothekarin Hoffnung zu gewähren. Sie liest sich aus ihrer inneren Gefangenschaft heraus und beginnt im Angesicht ihrer neuen geistigen Freiheit die Unfreiheiten ihres Körpers zu erkennen.
„Es war müßig, noch weiter über meine Gefangenschaft zu brüten. […] Die Bibliothek war erst zum Gefängnis geworden, als sie aufhörte der Ort meiner Pflicht zu sein. Ohne Pflicht kein Ort oder keine Identität für den Ort. Aber dem Ort war es egal. Er war.“ S. 56
Mehr als bis zu Seite 50 sollte ich nicht verraten. Das Buch will schließlich noch gelesen werden. Und da bin ich auch schon bei einem wichtigen Punkt angelangt. Das gilt nicht nur für mein Buch, obwohl ich mich persönlich natürlich darüber besonders freuen würde. Jedes Buch braucht seine Leser:innen. Die meisten haben sie verdient. Bei aller Liebe zur Kunst: um der Kunst willen schreiben wir Autor:innen nicht gerne ins Nichts und das gilt für uns Zeitgenössische ebenso wie für abertausende AutorInnen der letzten Jahrhunderte.
Unabhängig aber von den Befindlichkeiten der Schöpfer:innen wirkt Literatur ausschließlich in ihrer Rezeption. Das Lagern und Archivieren von Literatur, die zur Kenntnisnahme und Einsortierung in die Nationalbibliothek wandert und das kurze Leben in den Regalen von Buchhandlungen (das nicht einmal jedem Buch beschert wird) – nur um dann unverkauft ans Lager zurückzugehen – ist ein trauriges Schicksal, das manchmal angesichts der Flut an Veröffentlichungen und deren variierender Qualität sowie der begrenzten Freizeit, des Überangebots anderer Medien und der zunehmenden institutionellen Marginalisierung der Literatur unausweichlich erscheint.
Ich halte diese Unausweichlichkeit aber für alles andere als Gottgegeben und obwohl ich hier gerne eine breite Wand an Ideen zur Stärkung der Literatur, Argumente fürs Lesen nicht als elitäre, der Konsumation anderer Medien überlegene Tätigkeit, sondern als essentiellen Baustein im Kunstgebäude oder dergleichen aufbauen möchte, beschränke ich mich auf eine kurze und auf wenige Aspekte beschränkte Anpreisung. Diese Aspekte sind mir während der Arbeit an der Bibliothekarin vor Augen gerückt, haben sich in diesem Buch verankert und bilden einen der thematischen Grundsteine des Romans.
Lesen ist etwas zutiefst Soziales und Emotionales – noch vor dem Intellektuellen. Die intellektuelle Erkenntnis im Lesen von Literatur entspringt nicht aus sich selbst, nicht allein aus klugen theoretischen Gedanken, die ein Autor oder Autorin in ihrem Buch vorbetet. Sie entspringt den Emotionen und subtil angestoßenen Eigengedanken, die einem durch Zugang zu den festgeschriebene Worten eines einzelnen anderen Menschen, eines imaginierten Autors, gewährt werden und mit diesen eine Konversation führen. Diese unaufhaltsame Empathie, diese Verschmelzung, öffnet implizite Bedeutungen und verleiht literarischen Ambivalenzen Bedeutung, bereichert den Geist, ohne hundertprozentiges Verständnis vorauszusetzen – solches Verständnis oder die Möglichkeit desselben wäre sogar schade. Unabhängig von örtlicher oder zeitlicher Distanz oder technologischen Möglichkeiten erlaubt das Lesen eines Buches intime und stressfreie Konversation und die Konfrontation mit fremden Gedanken, ohne Zwischenrufe und den Reflex sofort und laut Antworten zu müssen.
„Wenn ich daran denke, eine Welt bloß aus Erzählungen zu kennen, kommt es mir nicht so vor als hätte ich das schon einmal versucht. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Bücher ich bis zum heutigen Tag gelesen habe, aber es sind wohl mehr als Sie in Ihrem gesamten Leben, Ihren dreiundsiebzigtausend Uhren, lesen werden, wenn es überhaupt Bücher gibt an Ihrem Ort.“ S. 86
Dabei sei es belassen. Keine Predigt zum Wert komplexer Sprache oder zum Wert selbsterarbeiteten Medienkonsums, der Kraft flüchtiger Langsamkeit. Nur das: Lest ein Buch und tragt das Gelesene in die Welt hinaus, in die Welt unter freiem Himmel. Sie ist flüchtig und schöner als euer eigenes Eck, eure Abteilung, eure Pflicht. Lasst die Literatur euch diese Welt eröffnen und bereist sie. Kommt ins Gespräch und verwehrt euch aller Interessensgrenzen. Setzt euch im Dunkeln ins Gras und friert eine Weile, bevor sich die Schleusentore schließen und ihr darauf warten müsst, abgelöst zu werden.
„Es war die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach einem Fluss, den es nicht gab.“ S. 203
In unserem Leser-Bereich findest du Buchtipps, Rezensionen und alles aus der Welt des geschriebenen Wortes.
EIN SCHÖNES AUSLÄNDERKIND von Toxische Pommes
STYX von Jürgen Bauer
CONTENT von Elias Hirschl
VERPASST von Hannah Oppolzer
Buchtipps 2022 – Peters 5 Top-Empfehlungen
FEUCHTES HOLZ von Sophia Lunra Schnack
DAS CAFÉ OHNE NAMEN von Robert Seethaler
VERSCHWINDEN IN LAWINEN von Robert Prosser
GÜNTHER von Andi Appel
WAS DER TAG BRINGT von David Schalko
DIE INKOMMENSURABLEN von Raphaela Edelbauer
MAUERN von Paul Auer
WAS ÜBER FRAUEN GEREDET WIRD von Mieze Medusa
Wiener Buchhandlungen: Die 12 besten Läden der Stadt
Die besten Bücher 2021: 12 Empfehlungen
Alle Fotos (c) Ganna Huemer, Septime Verlag, helderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.