Raphaela Edelbauers vierter Roman ist da. Nach Dave (hier unsere Rezension) und Die Inkommensurablen (hier unsere Kritik) ist Die echtere Wirklichkeit eine konsequente Weiterentwicklung ihres Schaffens. Man liest ihre Handschrift in jedem Wort, jeder Satzstellung. Verkopft, schwierig, gnadenlos anspruchsvoll, aber auch humorvoll, emotional und spannend, nimmt sie uns mit in die Welt philosophischen Terrors.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch
in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor, 9. 10. 2025
Um den gesellschaftlichen und politischen Folgen postmoderner Denkrichtungen Herr zu werden, beschließt eine kleine Gruppe exzentrischer Philosophinnen und Philosophen, dass Gewalt die einzige Lösung darstellt. Eine Terrorgruppe ist geboren basierend auf dem Kredo: Es gibt eine Wahrheit, auch wenn wir sie nicht immer fassen können. Gegen alternative Fakten und personal truths sollen nun die Waffen sprechen. Mitten drin die junge Programmierin Byproxy zwischen Beobachtertin, Rekonstrukteurin und Komplizin.
Byproxy ist eine autodidaktische Spielentwicklerin, die daran arbeitet, ein gänzlich neues Genre zu begründen: Think-Backwards-Games. Darin wird man mit einer Szene konfrontiert und muss nun anhand von Hinweisen rückwärts durch die Geschichte arbeiten, bis man die Kausalitätskette der Ereignisse zu ihrem Ursprung zurückverfolgt hat. Ein guter Hinweis für den Rest des Romans. Leider interessieren sich die Publisher nicht so recht für ihr verkopftes Spiel. Wo ist die Action?
Byproxy sitzt seit einem Unfall, bei dem ihre beste Freundin ums Leben gekommen ist, im Rollstuhl. Zusätzlich hat sie große Schwierigkeiten, emotionale Verbindungen einzugehen, Empathie zu empfinden – auch sich selbst gegenüber – weswegen sie sich des öfteren aus Szenen herausnimmt und zum scheinbar objektiven “man” wird. Wohnungs- und mittellos streunt sie umher, bis sie auf die terroristische Philosophengruppe Aletheia trifft. Vier eher skurille wie auch archetypische Gestalten, die sich das Ende des postmodern begründeten Glaubens an mehrere gleichwertige Wahrheiten auf die Fahne geschrieben haben.
Wie man schon aus der Einleitung erahnen kann, handelt sich nicht gerade um leichte Lektüre, was den theoretischen Unterbau angeht, auf den man sich einlassen muss. Abschrecken lassen sollte man sich von den Fachbegriffen und Exkursen in die essentiellen Werke der Philosophie aber nicht, denn hat man diese mentale Hürde einmal genommen, ist das Buch vielfach zugänglicher als erwartbar gewesen wäre.
Der Plot ist von Anfang an clever konstruiert. Nicht immer chronologisch gibt einem der Roman alle Informationen immer dann, wenn man sie benötigt, und verhindert somit den Overload. Natürlich ist es hilfreich, zumindest ein bisschen Ahnung von den Grundbegriffen der Geisteswissenschaft zu haben, aber es ist keine Vorbedingung. Für all jene, die mit dem Vokabular ohnehin bereits etwas anzufangen wissen, sind manche Erklärungen vielleicht sogar etwas zu detailliert geraten. Sie hindern den Erzählfluss jedoch nicht.
Wir erleben den Roman aus Byproxys Perspektive. Und obwohl von allem mit großer Sicherheit berichtet wird, erkennen wir schnell, dass sie der Welt wie einem ihrer Think-Backwards-Games gegenüber tritt. Um zur Lösung zu kommen, braucht es eine große Menge an Spekulation. So erzählt sie uns Szenen aus der Vergangenheit der Aletheia Mitglieder in großem Detail, ohne diese Details tatsächlich kennen zu können. Alles, was zählt, ist dabei, dass diese teils spekulativen Nacherzählungen plausibel in die Gegenwart führen können. Sie konstruieren eine Wahrheit – die einzige Wahrheit, zu der die Lesenden Zugang haben -, lösen die Beschränkungen der Erzählperspektive auf und offenbaren den Unterschied zwischen Nicht-Wissen und Nicht-Existieren. Eine Wahrheit gibt es, muss es geben, obwohl Byproxy sich ihrer bloß annähert.
Den Menschen, die für sie von Interesse sind, tritt Byproxy, obwohl sie sich ihnen emotional nicht recht nähern kann, zumindest mit einem gewissen Wohlwollen entgegen. Sie erlaubt ihnen Dreidimensionalität. Andere, Paswanten im Zug, Besucher:innen eines Zeltfestes, urteilt sie gnadenlos anhand weniger Anhaltspunkte ab. Sie sind Kulisse, fügen sich zu einem Wimmelbild zusammen. Dabei scheitert ihr Versuch, aus subjektiven Beobachtungen ein objektives Gesamtbild zu zimmern. Die Szenen verweigern sich einer einfach zurückverfolgbaren Lösung. Das ändert aber nichts an der Gewissheit: Die Lösung existiert. Die Wahrheit existiert. Es können nicht alle gleichzeitig recht haben und nicht jede Meinung ist gleichberechtigt. Auf intellektueller Ebene versteht sie das.
Der Cast der Terrorgruppe besteht aus einer paranoid agressiven Bombenbauerin namens “Die Chirugin”, der rebellischen und anpassungsunwilligen Milliardenerbin Barbara, dem gescheiterten Philosophiedozenten Bernward und dem zerstreuten aber gutmütigen Paul. Sie sind stellenweise, wie ihre ganze Bewegung, satirisch überzeichnet. Aletheia Aktionen geraten meist zur Farce und mit der Ernsthaftigkeit und Überlegenheitsgewissheit, mit der die Gruppe sich selbst betrachtet, gibt sie sich der Lächerlichkeit preis.
Wäre da nicht die Gewalt und die dahinterstehende ehrlich begründete Verzweiflung und Hilflosigkeit anhand einer aus den Fugen geratenen Welt. Wie kann es ein Fortbestehen geben, wenn man sich selbst in den einfachsten Dingen uneins ist, wenn man sich nicht einmal darauf einigen kann, dass eine Wahrheit existiert, die mehr als individuelle Erfindung ist? Man kann es nur immer wieder erklären und die anderen notfalls gewaltsam zum Zuhören zwingen. Zu diesem Schluss kommt zumindest Aletheia. Den Gruppenmitgliedern fehlt jedoch das Verständnis ihrer eigenen Subjektivität. Ohne es zu merken, folgen sie alle ihren eigenen Vorstellungen, ihrer eigenen Wahrheit. Aber vielleicht ist das gar kein Widerspruch. Sie sagen ja nicht, dass nicht jeder die Wahrheit anders wahrnimmt, sondern nur, dass es außerhalb dieser Wahrnehmungen eine Wahrheit gibt, auf die sich die Wahrnehmungen beziehen.
Die echtere Wirklichkeit ist ein Roman, der sich, mehr noch als Edelbauers vorherige Bücher, als hochkonstruierte Abhandlung komplexer Ideen präsentiert. Gepaart ist das Ganze aber mit wichtigen gesellschaftlichen Fragen, interessanten Charakteren und einem erstaunlich dynamischen Plot. Der satirische Ton und der omnipräsente Humor ist für einen theorielastigen Roman wie diesen ein Segen. Die Autorin mutet den Leser:innen etwas zu, aber sie traut es ihnen auch zu. Hier wird niemandem etwas geschenkt, aber die Hand ist stets ausgestreckt, um einen durch die Seiten zu führen. Man sollte sie unbedingt ergreifen. Es zahlt sich aus.
Die echtere Wirklichkeit von Raphaela Edelbauer ist im August 2025 bei Klett-Cotta erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.