Lilly Liesers bewegtes Leben in Wien von der Jahrhundertwende bis zu ihrer Ermordung als Naziopfer ist wenig bekannt. Anna Amilars Fact-Fiction Looking for Lilly gibt der Frau, die für viele ähnliche Schicksale steht, ein Gesicht. Rezension zu einem berührenden Buch.
von Christian Orou
Wenn Menschen im Umfeld von großen Persönlichkeiten leben, laufen sie Gefahr, zu Randnotizen zu werden. Egal wie glamourös, schicksalhaft oder tragisch der Verlauf ihres Lebens war. Henriette Amélie Landau (in Wien den Leuten als Lilly Lieser bekannt) ist so eine Person. Ende des 19. Jahrhunderts in eine großbürgerliche, jüdische Familie geboren, trifft sie Anfang des 20. Jahrhunderts auf Alma Mahler-Werfel. Bald verbindet beide Frauen eine innige Freundschaft, die von der Persönlichkeit Mahler-Werfels überstrahlt wird. Die Autorin Anna Amilar hat Henriette Amélie Landau nun ein literarisches Denkmal gesetzt.
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Bekannt ist über Landau, die nach ihrer Hochzeit den Namen ihres Mannes annahm und in der Wiener Gesellschaft als Lilly Lieser einen guten Ruf hatte, wenig. Kaum etwas findet sich in den üblichen Quellen. Aus diesem Grund hat sich die Autorin dazu entschlossen, Lillys Geschichte in einen Fact-Fiction-Roman zu verpacken. Die Fakten liefern die spärlichen Einträge in Alma Mahler-Werfels Biografien, Korrespondenz, unter anderem mit Arnold Schönberg, die erhalten geblieben ist und Eintragungen in Rückstellungsakten, in denen Lillys Kinder das gestohlene Vermögen ihrer Mutter zurückforderten. Die weißen Flecken der Biografie füllt Amilar mit Geschichten, die so sich so begeben haben könnten.
So entsteht Looking for Lilly weniger ein Roman als eine fiktionale Biografie, die sich an den spärlichen Daten orientiert, die es von Lilly Lieser noch gibt. Darauf macht die Autorin auch aufmerksam. Sie erhebt keinen Wahrheitsanspruch, tritt in Laufe der Geschichte immer wieder in Kontakt mit der von ihr gezeichneten Figur, schreibt ihr Briefe, in denen sie ihre Unsicherheit formuliert und holt sich in fiktiven Dialogen Absolution.
Wer war nun diese Henriette Amélie Landau, die von allen Lilly gerufen wurde? Eine selbstbewusste Frau, die in eine wohlhabende, jüdische Großbürgerfamilie geboren wurde. Religion spielte in ihrem Leben keine große Rolle, bis sie die Nazis auf ihre jüdische Herkunft reduzierten. Sie chauffierte ihr Auto selbst, hielt Hunde, stieg alleine auf Berge, ging Ski fahren und spielte Tennis. Das alles war um 1900 für eine Frau nicht selbstverständlich.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wuchs sie schnell in das gesellschaftliche Leben im Wien der Jahrhundertwende hinein. Ihr Vermögen nutzte sie, um Künstler:innen, aber auch soziale Vereine zu unterstützen. So förderte sie zum Beispiel Arnold Schönberg, dessen Musik sie liebte. Diese Beziehung ist auch durch Briefwechsel relativ gut dokumentiert.
Mit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und Österreich ändert sich Lillys Leben schlagartig. Sie wird um ihr Vermögen gebracht, verliert ihre Immobilien und damit ihre Lebensgrundlage. Und wieder einmal wird, wie bei vielen Geschichten aus der Nazizeit (be)greifbar, dass es damals nicht wenige, an wichtigen Stellen sitzende Verbrecher waren, die dafür verantwortlich waren. Das Naziregime stützte sich auf die kleinen, einfachen Menschen, die bereitwillig die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten übernahmen, ihre Nachbar:innen bestahlen und durch Denunziation der Gestapo auslieferten. Und damit eine Mitverantwortung an der Deportation von und dem Mord an unzähligen Wiener Jüd:innen trugen.
Anna Amilar gelingt es, ihre Geschichte rund um vorhandene Dokumente zu spinnen, ohne dass Brüche sichtbar werden. Hat sich alles wirklich so zugetragen? Es ist zumindest eine mögliche Variante. Es wurde ein berührendes Buch, das ein Porträt einer starken Frau zeichnet, die letztendlich durch ein mörderisches Regime umgebracht wird. Amilar füllt die weißen Stellen in Liesers Biografie und erschafft somit eine Kunstfigur, die stellvertretend für viele Schickale in der Zeit von 1933 – 1945 steht. So entsteht eine Geschichte, die man gerade in Zeiten, in denen rechtsextreme Ideologien in Europa im Vormarsch sind, nicht oft genug erzählen kann.
Looking for Lilly von Anna Amilar ist 260 Seiten dick und hier auf der Homepage der Autorin erhältlich.
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Mehr InformationenFotos: (c) heldenderfreizeit.com, Anna Amilar
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