Christian Kracht meldet sich vier Jahre nach Eurotrash mit dem neuen Roman AIR zurück. Traditionell kurz gefasst und wie gewohnt ungewohnt schleudert uns der Schweizer in eine Geschichte zwischen Innenarchitektur und Mittelalter-Fantasy. Dazu noch ein Hauch künstliche Intelligenz und fertig ist ein echter Kracht. Mehr noch als zuvor scheint der Autor hier von der Leine gelassen.
von Peter Huemer, 17. 4. 2025
Paul ist Innenarchitekt und lebt abgeschieden auf der schottischen Insel Orkney. Dort sult er sich in ans perfomative grenzende Einsiedlertum und während er von einem noch abgeschiedenerem Leben träumt, trudelt ein Auftrag bei ihm ein. Ein gigantischer Datenspeicher mit Rechenzentrum in Norwegen muss gestrichen werden. Gesucht wird das perfekte Weiß. Plötzlich löscht eine Sonneneruption alles Leben auf der Erde aus – und Paul wird in eine Fantasy-Welt und ein völlig anderes Dasein katapultiert.
Aber wie kommen wir vom Innenarchitekten auf seiner Insel in eine gänzlich fremde Welt? Nur Geduld. Das Buch vollzieht diesen Wandel schleichend durch eine langsame Verschiebung der Perspektive und der Erzählprioritäten. Zuerst wechseln sich die Kapitel ab. Paul auf der Insel – das kleine Mädchen Ildr in ihrer Hütte im Wald auf der Hut vor den Soldaten des Herzogs. Ein paar Mal wechselt das Geschehen so die Szenerie bevor das Buch gänzlich kippt und aus einer Perspektive, der Ildrs, in der fremden Welt, zwei werden.
Da erst merkt man, dass die Erzählung auf der Kippe stand und sich nun in freiem Fall befinden. Ein scharfer Moment, der sich im Buch mehrmals auf unterschiedlichen Ebenen wiederholt. Der Roman bricht mit der Erwartungshaltung. Hat man zwar schon zuvor das Gefühl, dass irgendwann, vielleicht gegen Ende, die fremde Welt die wichtigere sein wird, passiert der Wandel viel früher als man es gewöhnt ist.
Umso härter ist die Zäsur, weil Paul und seine “reale” Welt der Innenarchitektur so sehr nach Kracht klingt, dass man fürchten muss, vor einem läge bloßes Selbstzitat. In Paul schwingen so gut wie alle Figuren Krachts mit: Der verlorene Mann aus Faserland. Der entwurzelte Suchende aus 1979. Der treue Parteiagent, dessen Weltbild sich langsam auflöst aus Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Der radikale Aussteiger und Inselherrscher aus Imperium etc. Paul zelebriert seine abgehobene Sehnsucht nach Askese und flieht in die Einsamkeit, wie in ein Schaubild des “Natürlichen” ohne groß zu reflektieren, dass die Art seiner Abgeschiedenheit eine Spielform des Luxus auf einer eng gewordenen Erde ist.
Er ist Dienstleister einer Industrie, die die Illusion von Einfachkeit und Einsamkeit verkauft und dabei die scharfen Kanten dieser Begriffe abhobelt. In seinem oberflächlichen Philosophieren bemüht er sich zwar zu verstehen, verlässt aber seine Komfortzone nicht. Als er auf seinen Auftraggeber trifft und dieser seine Philosophie kurzerhand mit einer anderen, noch abgehobeneren und unpraktischeren attackiert, bleibt eine unsichere Hülle zurück, die sich konsequenterweise mit dem Gedächtnis und “Geist” der Menschheit in der Serverfarm konfrontiert, auflösen muss. Die Figur Paul verliert ihren Kontext. Die Figur Paul wird ihrer Dimension entrissen und als reines Erleben und als Erinnerung in eine andere transplantiert. Eine Dekomposition.
Diese Fantasiewelt, in der Paul sich wiederfindet, ist eine lineare. Von Norden nach Süden geht die Reise und andere Richtungen existieren nicht. Im Norden lebt der böse Herzog und im Süden liegt das Eismeer. Eine Umkehr. Von seiner schottischen Insel blickte Paul nach Norden ins Eis. Hier findet die Realität das Spiegelbild aller Ideen. Der Weg ins Eis führt in die entgegengesetzte Richtung. Aus der Bauanleitung für eine 3D-gedruckte Schusswaffe in seinem Beutel, wird die Waffe selbst. Aus Einsiedlertum wird väterliche Fürsorge. Und aus breiter, ausladender Sprache voller Fachbegriffe und Details werden simple Sätze.
Der Stil stumpft ab, berichtet vom Ist in einfachster Form und scheut auch nicht davor zurück fünf Sätze in Folge mit “Ich” zu beginnen. Auf seiner Flucht von Nord nach Süd wird alles immer flacher. Die Sprache, die Welt, die Motivation. Schicht für Schicht verliert Paul auf seinem Weg. Er löst sich auf. Die Literatur löst sich auf und hält sich im Dünnerwerden mehr und mehr an bekannten Vorbildern fest. Erst ein Zeitreiseplot, dann die Brüder Löwenherz, dann ein Gemälde. Alles wird flacher und die Erinnerungen verflüchtigen sich.
Liest man den Roman als eine Reise ins Jenseits, dann ist es eine tröstliche Reise – eine langsame Auflösung des Selbst und ein Wiederaufbau aus der Ganzheit menschlicher Geschichten und Motive. Gleichzeitig könnte sich die Fantasiewelt aber auch in den Schaltkreisen der Serverfarm befinden, aus den Haluzinationen einer KI entstanden, die versucht Paul in eine simplifizierte Geschichte bestehend aus unverstandenen Daten, einzubauen. Dann folgt sie einfach auf einfachste Weise den Konventionen einerFantasygeschichte, wie die KI sie versteht, repliziert den Stil eines Jugendbuches auf ungelenke Art und Weise, erzeugt aus den Überbleibseln eines Menschen ein flaches Amalgam, das am Ende nicht mehr als ein mittelmäßiges Gemälde abgibt.
AIR ist eine Roman, wie man ihn nicht häufig in die Hände bekommt. Zwiespältig und irritierend bis ins Äußerste und gleichzeitig unbehaglich faszinierend. Er lebt von der Erwartungshaltung der Lesenden und egal, welche man mitbringt, wird man aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Buch ist eine Erfahrung und ob man sie am Ende gut findet, sei jedem selbst überlassen. Darauf einlassen sollte man sich aber unbedingt.
AIR von Christian Kracht ist im März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.