Noch bunter, noch queerer, noch ambitionierter. Über 30 Themen packt die Netflix Serie am Ende aus und schlägt dabei ernstere und erwachsenere Töne an. Geht das auf? Wir verraten es dir in unserer Sex Education Staffel 4 Kritik.
von Christoph König
Eineinhalb Stunden dauert die letzte Folge der finalen Staffel von Sex Education (eine unserer 11 liebsten queeren Serien). Kein Wunder, dass sich die Macher hier nochmal eine ganze Filmlänge Zeit nehmen. Staffel 4 ist so vollgepackt an Themen, dass es eine große Herausforderung ist, ein befriedigendes Ende zu finden. Nach Vorab-Sichtung der 8 Folgen, die seit 21. September für alle abrufbar sind (hier übrigens schon das Netflix Programm Oktober), mussten wir erstmal den Stift zücken und die Menge an behandelten Themen nachzählen.
Asexualität, Bisexualität, Geschlechtsumwandlung, Postnatale Depression, sexueller und emotionaler Missbrauch, Trauer, Tod, Suizidgedanken, Drogensucht, Mobbing, Kirche und Homosexualität, Nichtbinäre Geschlechtsidentität, Eheprobleme, Fernbeziehungen, Nacktfotos im Netz, Barrierefreiheit, Inklusion, Krebs, Suche nach dem leiblichen Vater, Angst vor Intimität, toxische Beziehungen, Kontrollwahn, Armut, Vater-Sohn Konflikt, Entfremdung, Verdrängung, Alleinerziehung, Impotenz, Leistungsdruck – und sicher haben wir das eine oder andere vergessen.
Neben den für Sex Education typischen Coming of Age und Sexualitätssorgen mischen sich also noch viele erwachsenere Themen hinein . Wirkt Staffel 4 dadurch überladen oder schafft sie dennoch einen gelungenen Abschluss? Kann sie sich in den Top-10 unserer 44 liebsten Netflix-Serien halten? Hier unser Fazit und um was es geht.
Nachdem die Moordale School zugemacht hat, übersiedeln die Schüler in das viel buntere und queerere Cavendish Sixth Form College. Otis (Asa Butterfield) hat schwer zu kämpfen. Erstens fehlt im Meave (Emma Mackey), die sich in den USA zur Schriftstellerin ausbilden lässt. Zweitens ist er damit überfordert, dass sie mit ihm Nacktbilder austauschen will. Und dann kann er als Sextherapeut schwer in der neuen Schule Fuß fassen, weil er mit Sarah “O” (Thaddea Graham) übermächtige und bereits etablierte Konkurrenz hat. Während sich sein Kumpel Eric (Ncuti Gatwa) sofort dick mit den queeren neuen Schulkolleg:innen anfreundet und wie ein Fisch im Wasser fühlt, ist Otis auch seine Mum Jean (Gillian Anderson) keine Hilfe. Denn sie braucht selbst Unterstützung als Alleinerzieherin und bekommt sie nur schlecht als recht von ihrer Schwester Joanna (Lisa McGrillis).
Viv (Chinenye Ezeudu) hat einen neuen Schwarm, was die enge Freundschaft zu Jackson (Kedar Williams-Stirling) verkompliziert. Und Ruby (Mimi Keene), einst noch Beliebtheitskönigin in Moordale, wirkt als eine der wenigen Heteros in der neuen Schule wie ein Fremdkörper. Der Versuch, in die neue queere Superclique mit Aisha, Abbi und Roman Aufnahme zu findern, scheint aussichtlos. Da kommt ihr Otis als neues “Aufpäppelprojekt” gerade recht. Adam (Connor Swindells) verpasst sich einen jobmäßigen Tapetenwechsel. Sein Vater Michael (Alistair Petrie) stellt sich beim Versuch eine bessere Beziehung mit ihm aufzubauen sehr ungeschickt an. Ebenso holprig startet Isaacs (George Robinson) und Amiees (Aimee Lou Wood) Kennenlernen im steckengebliebenen Aufzug. Doch verstehen sie sich besser als gedacht? Und dann ist da noch die non-binäre Person Cal (Dua Saleh), die Testosteron schluckt und der ihre Geschlechtsumwandlung zu langsam geht.
Der Plot verrät es – die Menge an aufgegriffenen Themen ist überwältigend. Dazu wird der Cast unter anderem mit dem queeren Schultrio, Therapeutin “O” und Jeans Schwester ergänzt. Auch diese Charaktere wollen erst einmal genauer vorgestellt werden. Klar, dass das mitunter zu viel ist. Und das merkt man gerade an den neuen Charakteren, die es nicht ganz schaffen, die Tiefe der bereits bekannten zu erreichen. Doch das stört nicht so sehr.
Eher nervt der neue Schauplatz ein wenig. Einerseits ist es cool, dass im College alles viel queerer, bunter und toleranter ist. Andererseits wird es von den Serienmachern in der Art und Weise zu sehr auf die Spitze getrieben. Wenn zwischen den Yogakreisen und Klangklassen statt der Stiege eine Rutsche in das Erdgeschoss führt und die Schüler Ukulele spielend aus dem Gebäude tanzen, wirkt das dann doch etwas übertrieben und klischeehaft.
Diese Kritik fällt aber nicht so stark ins Gewicht. Denn Sex Education schafft es auch diesmal die vielen ernsten Themen so rührend und stimmig zu transportieren, dass die Serie einen bis zum Schluss fesselt. Neben Eric, den der Umgang seiner Kirchengemeinde mit seiner Sexualität zu schaffen macht, sind es vor allem die Geschichten von Cal, Meave, Jean, Aimee, Adam und Michael, die bewegen. Otis wird etwas zur Randfigur. Denn seine Sorgen (Konkurrenz zu “O”, Distanz zu Meave) wirken gegen die Probleme der anderen eher klein. Das spannende Verhältnis von Ruby zu “O” und zu Otis wird lange gekonnt aufgegriffen, dann aber zu einem lieblosen Ende geschluddert.
Dass bei den vielen ernsten Themen, die komödiantische und sexkundige Charakteristik der Serie eher in den Hintergrund rückt, macht Sex Education nicht schlechter. Im Gegenteil: Der Drama-Part ist sogar der deutlich bessere. Immerhin flutschen die Gags diesmal ganz gut und sorgen für willkommene Auflockerung. Wenn beispielsweise bei der Suche nach tauglichem Gleitmittel zum falschen Selfmade-Speiseöl gegriffen wird. Eine Erwähnung verdient auch noch die Musik – die Titel sind sehr gelungen platziert und treffen auf der Gefühls-Klaviatur die richtigen Tasten.
Die 4. Staffel von Sex Education bietet uns weit mehr Drama als Comedy und dennoch ein fast durchwegs befriedigendes Finale. Obwohl etwas überladen an Themen und Charakteren werden die ernsten Themen so einfühlsam und stimmig transportiert, dass man nicht nur einmal zu Tränen gerührt ist. So tut es weh, dass dies schon die letzte Staffel ist.
Hier könnt ihr übrigens unsere Review zu Staffel 1 nachlesen und hier unser Urteil zu Staffel 2.
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Alle Fotos: (c) Netflix