Sechs Jahre nach ihrem letzten Roman ist Anna Weidenholzer mit ihrem Erzählband Hier treibt mein Kartoffelherz zurück. Mit vier Jahreszeiten, 25 Geschichten und jede Menge kleinen und großen Beobachtungen in den Winkeln des täglichen Lebens.
von Peter Huemer, 19. 8. 2025
Kurzformen der Literatur von Erzählungen bis hin zur Lyrik werden im modernen Betrieb zu oft von der Textform des monolithischen Romans überschattet. Da ist es nur richtig und wichtig, sich hin und wieder darauf zu besinnen, wie viel Autor:innen auch auf wenigen Seiten transportieren können.
Im Zentrum der Erzählungen stehen zu jedem Zeitpunkt die Menschen. Manchmal innerhalb weniger Zeilen werden dreidimensionale Personen geschaffen, manchmal ohne ein einziges Wort zu sprechen. Sofort ist klar: Da ist jemand. Die Charaktere erfüllen keine Funktion in der Erzählung, sondern die Erzählung erfüllt eine Funktion für die Charaktere. Obwohl die Handlungen zwischen signifikanten Wendepunkten bzw. emotionalen Kernerlebnissen und scheinbar Alltäglichem hin und her pendeln, erscheint eines nicht wichtiger als das andere. Ob nun eine Künstlerin am Ende ihrer Residenz auf dem Land eine Krise erleidet oder eine Mutter auf 14 Zeilen die Triebe einer herzförmigen Kartoffel in der Küche bemerkt – beides trägt Bedeutung und das ist auf jeder Seite fühlbar.
Unabhängig von der jeweiligen Erzählperspektive sind die Erzählungen introspektiv ohne zu monologisieren. Dies führt zu einer großen Distanz zwischen den Protagonist:innen und dem Rest der Welt. Diese Distanz ist manchmal Einsamkeit, manchmal tatsächliche Isolation, aber immer ist es eine konzentrierte Beobachtung des Individuums. Auch so wird der Charakter zum Menschen.
Ohne spezifische Ortsangabe zu machen, fühlt man sich stets sicher verortet, als habe man die jeweilige Gegend schon einmal gesehen. Meist sind es kleine Orte am Land, abgelegende Häuser, Hotels auf dem Hügel, aus der Welt gefallene Zimmer. Selbst wenn die Handlung einer Erzählung in einem Flugzeug am Himmel angesiedelt ist, bleiben die Assoziationspunkte zum Ländlichen.
Es ist aber keine Wertung (Stadt gegen Land) zu erkennen. Vielmehr betreibt der Band damit Ähnliches wie die einzelnen Geschichten in sich. Hier werden die Orte entengt, die Menschen voneinander abgeteilt – nicht um sie voneinander abzuschneiden, sondern um ihnen persönlichen Raum zu geben, Luft zum Atmen. Sie bleiben in Kontakt, reden mit und über einander, denken aneinander und übern Einfluss auf einander aus. Aber sie bleiben, wie die weit gefächerten Orte, jeweils ihr eigenes wertvolles Selbst. Die Verbindung zwischen den Menschen und genauso zwischen den Erzählungen besteht in diesen Assoziationen zueinander. Manchmal beginnt eine Geschichte am Ende des Blickes der anderen. Von einer Person zur Nachbarin und von der Nachbarin ins Flugzeug, das eben noch von unten beobachtet wurde.
In der Form verweigert sich das Buch eigentlich der Bezeichnung: Erzählband oder Kurzgeschichtenband, obwohl er bestimmt Erzählungen (Kurzgeschichten eher nicht) enthält. Einige Episoden sind mehrere Seiten lang, die Handlungen ziehen sich über Tage und Stunden. Dann aber kommen wenige Zeilen lange Ausschnitte von Szenen, die zwar dramaturgisch unvollständig erscheinen, eine Handlung aber nicht unbedingt vermissen.
Egal, ob lang oder kurz, man kann sowieso nie ein ganzes Leben, eine ganze vorn und hinten abgeschlossene Geschichte über einen Menschen erzählen. Und bei genauerer Betrachtung hinkt die Unterscheidung der Episoden anhand ihrer Länge. Die fünf oder sechs Seiten langen Geschichten teilen sich mit den Zehnzeilern fast alle anderen Merkmale. Sie beginnen mittendrin und enden, ohne etwas zu Ende zu führen. Es überrascht nicht wenig, dass die ganz kurzen Episoden in ihrer Verdichtung oft den größten Eindruck hinterlassen. Man kann nur nicht leicht definieren, warum sie einen bewegen.
Hier treibt mein Kartoffelherz ist ein Erzählband, der sich sowohl dazu eignet, an irgendeiner Stelle aufgeschlagen, als auch dazu, in einem Sitz verschlungen zu werden. Am Ende jeder Erzählung wünscht man sich mehr zu erfahren und wird sogleich von der nächsten entschädigt. Wie ein Reisender in einer Winternacht lässt man sich von einem Anfang zum nächsten treiben und inspirieren.
Hier treibt mein Kartoffelherz ist 2025 bei Matthes & Seitz erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.