Mit The Abandons reitet das nächste große Western-Epos auf Netflix ein – im Schatten von Yellowstone und dessen Prequels 1883 und 1923, aber mit zwei Matriarchinnen, die das Genre umkrempeln sollen. Ob dieser Aufbruch ins Neuland gelingt oder bei Western-Liebhabern eher trockenen Präriestaub aufwirbelt, berichten wir euch in dieser Kritik.
Christina H. Janousek, 5. 12. 2025
Regisseur Kurt Sutter beweist einmal mehr sein Talent dafür, Serienprojekte im letzten Moment zu verlassen. Nach seiner Feuerung als Co-Produzent während der Produktionsarbeiten für die zweite Staffel des Spin-Offs zu Sons of Anarchy (Mayans M.C.) 2019 zog er nun im Oktober 2024 bei The Abandons kurz vor Ende der Dreharbeiten freiwillig die Reißleine – angeblich wegen nicht näher erörterten Konflikten über Budget, Episodenanazahl sowie Episodenlänge mit der Streaming-Plattform Netflix.
Trotzdem gießt Sutter weiter Öl ins Gerüchtefeuer: Immer wieder wird angedeutet, auch The Abandons könne eine kryptische Sons of Anarchy-Hommage sein – nicht zuletzt wegen der teils ähnlichen Besetzung und vertraut klingender Charakternamen.

Dazu kommt der Yellowstone-Hype der letzten Jahre, der Westernproduktionen weltweit angeschoben hat – vom australischen Outback-Drama Territory über Jane Campions Neuinterpretation von The Power of the Dog bis hin zu der modernen Dallas-Version Landman, dem Western-Noir-Thriller Dark Winds und Kevin Costners Mammutprojekt Horizon. (Bemerkenswert: Auch Costner verabschiedete sich aus der finalen Yellowstone-Staffel aufgrund kreativer Differenzen.) The Abandons hat also große Fußstapfen zu füllen und startet unter hohem Erwartungsdruck.

1854, Angel’s Ridge im Washington-Territorium, dem heutigen Oregon: Die verwitwete Constance Van Ness (Gillian Anderson), wohlhabende Besitzerin einer Silbermine und Mutter dreier Kinder, regiert die Stadt mit eiserner Hand. Hoch zu Ross und mit frostigem Blick hält sie selbst einflussreiche Männer wie den Bürgermeister (Patton Oswalt) in Schach. Der Sheriff duldet ihre offenen Gesetzesverstöße, solange sie nicht ans Licht treten – von Brandstiftung über Korruption bis zu illegalem Waffenhandel. Sogar einige Ureinwohner und die Red-Mask-Banditen (u. a. Michiel Huisman) lässt sie für ihre Zwecke arbeiten.

Um sich Angel’s Ridge vollständig unter ihren Nagel zu reißen und dessen Ressourcen auszubeuten, schreckt Constance vor nichts zurück. Auch das Land der titelgebenden Abandons (dt. die Verlassenen) steht auf ihrer Liste – einer Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter, die von der strenggläubigen irischen Farmerin Fiona Nolan (Lena Headey) als eine Art Patchwork-Familie aus Waisen und Underdogs aufgenommen und wie eigene Kinder großgezogen werden. Als ein Zwischenfall zwischen Constances Sohn Willem (Toby Hemingway) und der Waise Dahlia Teller (Diana Silvers) die Fehde zwischen den Familien eskalieren lässt, vereint Fiona sogar ihre Nachbarn, die Bewohner des Orts Jaspar Hollow (u. a. Ryan Hurst), gegen Constance.

Überraschenderweise profilieren Anderson und Heady ihre Figuren kaum psychologisch. Der Werdegang, der sie zu unanfechtbaren, respektierten Powerfrauen gemacht hat, bleibt fast völlig ausgespart – ein Umstand, der der Geschichte etwas Utopisches verleiht. So fällt etwa der Name von Constances verstorbenem Ehemann Emmet Van Ness nur beiläufig, verbunden mit seiner Vorliebe für Schubert, als Constances Tochter Trisha (Aisling Franciosi) am Klavier sitzt. Seine Todesursache bleibt ungeklärt. Bei den Nebencharakteren ist das nicht viel anders: Constances Handlanger Jack Cree (Michael Grayeyes), ein Angehöriger der indigenen Bevölkerung, wird lediglich darüber charakterisiert, dass Emmet seinen kühnen Kopf in brenzligen Situationen geschätzt habe. Subtile Hinweise auf wichtige Zusammenhänge sucht man hier meist vergeblich. Die einzige Figur, deren Vergangenheit wenigstens ansatzweise Kontur gewinnt, ist Fionas Verbündeter Miles Alderton (Ryan Hurst).

Lediglich über den Grund für Fionas Aufopferungsbereitschaft für ihre gemeinsam mit ihrem Mann adoptierten Kinder und über dessen Schicksal erhält man ein gewisses Bild. Weit weniger erfährt man hingegen über ihren migrantischen Hintergrund oder darüber, wie sie die Außenseiter später allein aufgenommen und die nötigen Ressourcen für sie auf der Rinderranch beschafft hat.

Der Romeo-und-Julia-Subplot zwischen der wagemutigen Trish und dem dümmlich dreinblickenden Waisenjungen Elias Teller (Nick Robinson) wirbelt die sonst klaren Opfer-Täter-Muster (reich: böse, arm: gut) nur kurz durcheinander, weil die beiden anfangen, die Motive ihrer eigenen Familien zu hinterfragen. Und obwohl Constance erfolgreich einen Keil zwischen Fiona und ihre Liebsten treibt und Fiona dadurch gezwungen ist, ihre moralischen Grundsätze zu beugen, bleibt sie trotzdem die Figur, der man – trotz ihrer harten Mimik – am liebsten die Daumen drückt. Das liegt vor allem an Lena Headeys starker Performance. Diese wirkt nach ihrer ikonischen Cersei-Rolle in Game of Thrones fast schon wie ein Kulturschock. Daneben geht Andersons stoische Darbietung komplett unter. Garret Van Ness (Lucas Till), der eines Tages das Imperium seiner Mutter übernehmen soll, sich aber ständig vor ihr behaupten muss, beginnt erst gegen Ende der Serie ein wenig an Tiefe zu gewinnen, die ihm sogleich wieder genommen wird.

Eine schöne Abwechslung zu konventionellen Western-Schauplätzen wie Prärien, Grenzgebieten, staubigen Kleinstädten und Minen liefern die pittoresken Landschaften des kanadischen Calgary. Neo-Western-Elemente wie Matriarchate und Themen von Blutsverwandtschaft und Adoption verleihen der Serie moderne Akzente. Sutter orientiert sich bei den Outlaws auch nicht an historischen Randgruppen im Washington-Territorium, sondern an der sizilianischen Mafia (Cosa Nostra) und der fiktiven Cartwright-Familie aus dem ersten Farb-Western Bonanza.
The Abandons greift klassische Westernmotive auf: Figurenarchetypen wie Antihelden, Sheriffs, Outlaws, Rancherinnen, Witwen, korrupte Geschäftsleute, Banditen und indigene Charaktere sowie typische Konflikte wie Landnahme, Selbstjustiz, moralische Ambivalenz und persönliche Rache. Das wäre alles nicht so übel, hätte man nicht das meiste in anderen Filmen oder Serien bereits weitaus besser gesehen. So wirken der prominente Cast und die hochwertigen Schauplätzen hier geradezu verheizt.

Die Gründe dafür sind zahlreich. Starke Leerstellen beim Plot, Schwächen bei der Figurenzeichnung, keine klar ersichtlichen Spannungsbögen, die die inkonsistenten Episodenlängen verursachen, der Druck durch den Yellowstone-Hype sowie Spekulationen über eine SOA-Hommage – das alles kann auch nicht durch die intensiven und durchaus spannenden Dialoge zwischen Fiona und Constance kompensiert werden. Vom unfreiwillig grotesken Bärenauftritt ganz zu schweigen. Sutters Ausstieg aus dem Projekt scheint nachvollziehbar. Wieso gelang aber unter Peaky-Blinders-Regisseur Otto Bathurst (Staffel 1), einem der sieben Produzenten, kein überzeugender Aufschwung? Der platte Cliffhanger lässt eine zweite Staffel mit Figurenausbau-Potenzial vermuten. Ob das gewünscht ist und sich die Investition wörtlich auszahlt? Wir haben Zweifel.
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Fotos: © Netflix
